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Die Tyrannei des Glücks

Dieses Thema im Forum "Small Talk" wurde erstellt von benjii, 20. Dezember 2002.

  1. benjii

    benjii New Member

    >>300 Jahre nachdem die Aufklärung Gott durch Glück ersetzte und erklärte, dass das Paradies schon auf Erden möglich ist; 226 Jahre nachdem die Amerikaner in ihrer Unabhängigkeitserklärung das Streben nach Glück zum Grundrecht deklarierten; nach jenem 20. Jahrhundert, in dem die Ideologien den Massen Glück versprachen und nur Elend brachten, scheint es so, als ob Glück ein Produkt geworden ist. Jeder kann es finden, er muss es nur wollen. Was wohl auch heißt, dass jeder selbst Schuld hat, wenn das Unglück ihn ereilt. Es ist eine machtvolle Botschaft. Sie klingt wie ein schrecklicher Befehl: erbarmungslos und ohne Trost. Die Tyrannei des Glücks.<<

    Wow. Was für wahre Sätze. Geschreiben von Lothar Gorris in einem sehr, sehr guten Artikel im Spiegel Nr. 51 über einen Motivations-Guru.
     
  2. colonel panic

    colonel panic New Member

    >>Jeder kann es finden, er muss es nur wollen.<<
    Demnach ist also Unglück der Normalzustand.

    >>dass jeder selbst Schuld hat, wenn das Unglück ihn ereilt.<<
    Demnach ist also Glück der Normalzustand.
     
  3. benjii

    benjii New Member

    nein, colonel, ich deute das anders:

    nämlich als eine Beschreibung des tatsächlich schon manchmal totalitären Zwanges, glücklich sein zu müssen. Unglück ist verpönt. Und das ist einfach nicht menschlich.
     
  4. Harlequin

    Harlequin Gast

    Im drohenden HighTech Faschismus des 21. Jahrhunderts wird die Frage Tod oder Leben sein.
    Ob das dann Glueck ist, mag jeder fuer sich selbst entscheiden . . .

    .
     
  5. benjii

    benjii New Member

    hmm, Harlequin, High Tech Faschismus finde ich zwar gar kein so unpassendes Wort, aber trotzdem ist mir deine Beschreibung etwas zu holzschnittartig. Ich würde es vielleicht so sagen: Der Zwang, dauernd optimiert und glücklich sein zu müssen, ist auch eine Art von Tod...
     
  6. wuta1

    wuta1 New Member

    wie wärs mit "wunschloses Unglück" - Peter Handke hat da das Leben seiner Mutter einer Oberöstereicherischen Omi abgebildet in den siebziegern . wer Lust hat und mal ein bisschen aus dem "GLÜCKS-FASCHISMUS" aussteigen möchte,kann sich das ja über die Feiertage reinziehen - oder auch nicht..das Streben nach Glück - als Suche nach materieller Befriedigung ist leider doch vergebens - aber man hat ein Leben lang Zeit das herauszufinden ..
     
  7. colonel panic

    colonel panic New Member

    Ich kenne leider nicht den gesamten Artikel (und den Zusammenhang).
    Mir ist nur dieser leichte Widerspruch aufgefallen, der diesen beiden zitierten Sätzen innewohnt, die vom Autor auch noch in einem kausalen Zusammenhang gestellt werden -> ("Was wohl auch heißt, dass...").
    Die Aufklärung hat "Gott durch Glück" ersetzt. Das stimmt. Vorher strebte man nicht nach Glück, da dieses Leben ja gerade nicht dafür geschaffen war (Hausverbot im Garten Eden, Abtragung der Erbsünde, warten auf den Himmel).
    Danach heißt es, die Ideologien hätten Glück versprochen. Das stimmt auch. Und keine Ideologie konnte bislang Wort halten.
    Jetzt - und das ist Wohl das Novum - jetzt ist Glück ein Produkt, eine Ware. Das stimmt auch. Aber wenn Glück ein Produkt ist, das man sich erst "leisten" können muss, dann kann von diesem Produkt keine Tyrannei ausgehen. Denn entweder man hat es oder nicht. Also ist das Glück völlig schuldlos und es tyrannisiert mich genau so wenig, wie eine Dash3-Packung (mit TAED-System) oder der neue Porsche 911GT, die beide unschuldig und harmlos in ihren Verkaufsstellen warten.
    Letztendlich ist es doch die Ideologie, die uns Tyrannisert. Und letztendlicher hat immer noch die Aufklärung Schuld, da sie uns immer noch einen Gegenentwurf zu Gott schuldig bleibt (was alleine schon ein unendliches Thema ist ;-)). Und am letztendlichsten haben wir selbst Schuld, da wir nicht nur unseres Glückes eigener Schmied sind, sondern auch unseres Lebens eigener Tyrann.
    ;-)
     
  8. benjii

    benjii New Member

    colonel, sehr schön, wie du das zusammengefasst hast.

    Tatsächlich, du hast Recht, nicht der Porsche oder Dash tyrannisiert uns. Was uns unter Druck setzt, permanent den glücklichen Konsumenten mimen zu müssen, ist aber wohl schon so eine Art Glücks-Faschismus", wie es Wuta in einem Posting weiter unten genannt hat. Du hast vollkommen Recht - also doch wieder eine Ideologie, wenn vielleicht auch versteckter, heimlicher als die Ideologien alten Schlages...

    Aber deshalb nicht weniger machtvoll. Denn als Mensch im Unglück bist du nicht sehr gelitten hier, und du hast Mühe, dich zu ernähren, kann ich mir vorstellen. Denn wie willst du einen Job und vieles mehr kriegen, wenn das Glück und Erfolg dir nicht gerade aus den Poren triefen?

    Auch das, was zur Aufklärung schreibst, stimmt. Der Gegenentwurf zu Gott ist tatsächlich ausgeblieben - und wird heute sehr extrem in Cash gesehen. Womöglich auch eine (äußerst faule) Frucht der Aufklärung? Wie Bärbel Schäfer im Übrigen auch... ;-)

    Aber bei deinem letzten Satz bin ich etwas skeptisch, colonel:

    >>Und am letztendlichsten haben wir selbst Schuld, da wir nicht nur unseres Glückes eigener Schmied sind, sondern auch unseres Lebens eigener Tyrann.<<

    Nein, dagegen wehre ich mich ein bisschen (und ich glaube, Gorris in seinem Zitat auch): Wir haben auf viele Sachen Einfluss, aber es gibt auch viele Dinge, die übersteigen unseren Rahmen. Was ich sagen will: Wir können zwar einige Dinge schmieden, aber nicht alles.
     
  9. benjii

    benjii New Member

    wuta, ich hab's weiter oben geschrieben. Ich finde, dein Begriff "Glücks-Faschismus" passt auf vieles... Handkes Buch kenne ich nur vom Titel her, aber ich werde es lesen. "Wunschloses Unglück" finde ich auch einen tollen Titel... Täusche ich mich, oder waren die Siebziger in dieser Beziehung die wesentlich ehrlichere Zeit?

    >>Streben nach Glück - als Suche nach materieller Befriedigung ist leider doch vergebens - aber man hat ein Leben lang Zeit das herauszufinden..<<

    auch gut gesagt :)
     
  10. noah666

    noah666 New Member

    Also ich bin meistens sehr glücklich über mein Unglück. Nur durch das Unglück das ich erlebe lerne ich das Glück zu schätzen. Ich möchte weder Unglück noch Glück in meinem Leben vermissen.

    mfg Noah
     
  11. benjii

    benjii New Member

    noah, wenn du noch glücklich sein kannst über dein Unglück, hast du Glück gehabt :)

    Nein, aber es stimmt schon - nur durch den Kontrast kann ja erfahren werden, was Glück und was Unglück ist. Vielleicht sind wir nicht mehr glücklich, weil wir nicht mehr unglücklich sein dürfen?
     
  12. noah666

    noah666 New Member

    Genau das war mein Gedanke. Als ich aufgehört habe unglücklich über mein Unglück zu sein hatte ich zum Glück viel mehr Glück ;-)

    gute Nacht und schlaft gut
     
  13. benjii

    benjii New Member

    ach ja, ich hab's vergessen, ich wollte noch ein bisschen Kontext liefern:

    Es ging im besagten Artikel mit dem Titel Die Menschentrainer um die Autoren so genannter "Glücksbücher", die zurzeit immense Auflagen verzeichnen.

    Im Speziellen ging es um Bodo Schäfer, der Bücher wie "Der Weg zur finanziellen Freiheit - In sieben Jahren die erste Million" geschrieben hat.

    Schäfer ist ein ehemaliger Versicherungsvertreter der Hamburg-Mannheimer, der jetzt "zwei Jaguar, zwei Rolls-Royce" besitzt und "Glücksseminare" auf Mallorca abhält. Gorris hat ihn wohl ein bisschen begleitet und ihm über die Schulter geschaut. Unter anderem war er mit in Lettland dabei, wo Schäfers Botschaft vom Reichtum für alle von einer Art religiöser Erweckungsbewegung mit einem ehemaligen Bauarbeiter als Führer verkündet wird. Aus dieser Passage stammt auch das oben angeführte Zitat.

    Unglaublich gut ist auch der Schluss des Artikels. Schäfer hat nämlich jetzt anscheinend mitbekommen, dass seine Botschaften vom Reichtum und Glück für alle in Zeiten der Rezession und Börsencrashs nicht mehr so in sind.

    Er bewundert jetzt eine Zürcher Autorin, die laut Gorris "schlecht gelaunte Geschichten aus einer düsteren Welt schreibt." Ihr hat er ein Manuskript von sich geschickt.

    O-Ton Gorris:

    >>Sie hat sich Mühe gemacht, kürzte, stellte um. Vorn im Manuskript hat sie einen dieser Schäfer-Sprüche unterstrichen. Einen dieser Sätze, die so optimistisch klingen und so kalt sind. "Du kleiner Pisser", schrieb sie an den Rand.

    Schäfer steht in seinem Büro, packt ein, Pfeife, Tabak, Feuerzeug. Er zieht sich das Jackett an. Er wiederholt den Satz.
    Du kleiner Pisser. Er lacht.<<

    :)
     
  14. smilincat

    smilincat New Member

    SHACKAAA!
    Die Krux an der Sache ist das Glueck immer mehr mit gellschaftlichem (!) Erfolg gleichgesetzt wird. Ich war schon oft so gluecklich wie es viele Ferrarifahrer vielleicht nie sein werden, auch wenn ich es jetzt nicht bin .
    Aber mit beruflichem Erfolg oder anderem suggeriertem Konsumglueck hat das absolut nichts zu tun.
    (konsumiere aber trotzdem wie die meisten von uns hier... ;-) substitution funzt ja immer besser)
    Leider ist ja jetzt schon jeder "ohne Kreditkarte nur mit dem was er schaetzt" - Glueckliche schon OUTLAW
    schade

    trotzdem noch smilincat
     
  15. wuta1

    wuta1 New Member

    @ Benji - "wunschloses unglück" ist ein tieftrauriges Buch -typisch für Peter Handke und irgendwie auch sehr typsch für die Siebziger - das Buch , das er vorher geschrieben hatte hiess "ALS DAS WÜNSCHEN NOCH GEHOLFEN HAT.." und ist , mM. nach , wesentlich besser.Ja die Siebziger waren für mich persönlich die "Goldenen Jahre" .. die achtziger ein Graus - aber das ist subjektiv - vieles an den Siebzigern gefällt mir noch heuet - das Hassen von marken-artikeln . Das "ehrliche" ,"unverstellte"- unrasierte achselhöhlen - siehe NENA - ANTI ATOM Bewegung; die Grünen etc. sozusagen die Verwirklichung der sechziger Utopien in die Realität..Es war z.b in meinemSchlafzimmer nachts noch richtig dunkel und ruhig. keine grünen Lampen vom iSub und der T-DSL Anlage usw. Nachts ab 1 Uhr gabs nix mehr in der glotze und surfen konnte man höchstens in californien - irgendwie sind einfachere zeiten angenehmer - dennoch möchte ich natürlci NICHT auf die heutigen Möglichkeiten verzichten- und je weiter die Realität aus dem Gedächtnis verschwunden ist ,umso glücklicher scheints - (Habe heute nacht einen Rückblick auf das jahr 1970 gesehen und damals waren die Flüsse und Müllkippen wirklich irre dreckig - im sommer in ESSEN barfuss in Sandalen und die Füsse sahen aus wie beim Schornsteinfeger - dank der ungefilterten abgase der PKW`s - das Problem ist erstaunlich gut gelöst worden - obwohl natürlich die galizische Küste dem widerspricht) )
     
  16. benjii

    benjii New Member

    wuta, hmmm, klasse, in deiner Beschreibung sind so richtig die 70-er-Jahre zu spüren. Tatsächlich haben wir ja vieles durch die rasende Entwicklung verloren, fiel mir jetzt durch deinen Text wieder auf: etwa die Ruhe in unseren nicht-technisierten" Wohnungen - das hast du gut erkannt. Und das "Hassen von Marken-Artikeln"... schon seltsam, dass das erst 30 Jahre her ist, kaum vorstellbar in unserer heutigen Konsummarken-Fetisch-Welt (darf man da auch Apple mit anführen? :)) Man muss natürlich vorsichtig sein mit Früher war alles besser" - trotzdem scheint es tatsächlich so, als hätte es ehrlichere (und deshalb bessere) Zeiten gegeben...
     
  17. benjii

    benjii New Member

    smilincat, ja, tatsächlich, so sehe ich es auch: Die Behauptung, dass Glück mit Produkten verknüpft sei, ist eine der wesentlchen Inhalte der herrschenden Propaganda. Letztendlich können wir Mac-User da auch unser Lied davon singen :) Und du hast Recht - derjenige wird schnell zum Outlaw, der sich nicht wenigstens in Grundzügen den Ansprüchen, die diese Propaganda weckt, fügt...
     
  18. colonel panic

    colonel panic New Member

    >>Wir können zwar einige Dinge schmieden, aber nicht alles.<<

    Da hast Du natürlich vollkommen Recht. Ich wollte den alten Satz ("des eigenen Glückes Schmied") ja auch nur missbrauchen, wegen der Nähe zu "des eigenen Lebens Tyrann zu sein". Denn wer sich vom allgemeinen "Glücks-Diktat" nicht unterjochen lassen will, der darf dann aber auch keine Probleme damit haben, dass die Gesellschaft ihn ächtet. Denn wenn er dies tut, ist er mit der "Ächtung" unglücklich und unterliegt, sofern er diesen Zustand ändern möchte, somit wieder dem Diktat. Das ist ein Teufelskreis, da alle das Glück suchen, selbst derjenige, der vorgibt das Unglück zu suchen, sucht gerade darin sein Heil. Das einzige was uns übrig bleibt ist, zu den gesellschaftlichen Zwängen NEIN zu sagen und unser Leben nach den, uns selbst wichtig erscheinenden Regeln, zu leben. Und damit natürlich glücklich zu sein. ;-)
     
  19. macixus

    macixus Hofrat & Traktorist

    Imanuel Kant beantwortete die Frage "Was ist Aufklärung?" 1784 wie folgt:

    "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmüdigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

    Deswegen ist die von dir zitierte Gorris These aus dem Spiegel "Aufklärung = Gott durch Glück ersetzt" zwar recht süffig, führt aber in die Irre. Auch das amerikanische Streben nach Glück ist m.E. etwas anderes als das Streben nach Erfolg ausgedrückt in Konsum bzw. in "Konsumentenglück".

    Warum also das Ganze nicht auf Herrn Kant zurückführen bzw. zurechtrücken? Den Mut aufzubringen, aus seiner "Unmündigkeit" auszubrechen und sich ohne "(An)Leitung eines anderen" seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist 2002 so aktuell wie 1784.

    Würde aber die Tschakkaa-Glücksbringer, die Geistlichkeit und die Sozialismus-Anbeter ganz schön arbeitslos machen ;-)

    Glück ist demnach nur dann Tyrannei, wenn mir ein anderer aufzwingen will, was ich unter Glück zu verstehen habe.
     
  20. Macmacfriend

    Macmacfriend Active Member

    Und:

    "Das Glück ist ein Wie, kein Was, ein Talent, kein Objekt." (Hermann Hesse)
     

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