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Die Tyrannei des Glücks

Dieses Thema im Forum "Small Talk" wurde erstellt von benjii, 20. Dezember 2002.

  1. benjii

    benjii New Member

    macixus, natürlich ist nichts gegen die klassische Kant-Definition zu sagen. Es gilt auch heute noch, sich mündig zu machen.

    Trotzdem gehen mir manche anderen Gedanken durch den Kopf:

    Denn es kann ja sein, dass den Menschen ein tiefes Unglück ereilt. Ein Unglück, gegen das er trotz der Aufbietung aller seiner Verstandeskräfte, machtlos ist. So etwas passiert heute in genau dem gleichen Maß wie in früheren Zeiten - trotz DVD-R und W-Lan, um nur ein paar Beispiele für den technischen Fortschritt zu nennen.

    Aber was ist dann, wenn ihn dieses Unglück ereilt hat? Muss er sich vorwerfen, zu wenig Verstandeskräfte besessen zu haben, um das Unglück abzuwenden? Hat er Schuld, dass er nicht glücklich ist? Ist also alles über die Verstandeskraft machbar?

    Weißt du, das sind so Fragen, auf die hatten meiner Meinung nach die Theologen noch Antworten - egal, ob man jetzt diese Antworten gut oder schlecht findet. Die Aufklärer sind sie, es wurde hier im Thread ja schon angesprochen, wohl tatsächlich schuldig geblieben...

    Ich meine auch, dass es solche Fragen sind, die die Leute zu den "Tschakka"-Gurus treiben. Aber dass die Antworten schlecht sind, heißt ja nicht, dass die Fragen unberechtigt sind...

    Zum Thema Tyrannei: Ja, da stimme ich deiner Definition schon zu. Aber ich erlebe den Menschen auf der einen Seite relativ frei, auf der anderen Seite auch relativ gebunden. Und eine solche Bindung ist die an eine Gesellschaft, die eben ihre ganz speziellen Definitionen von "Glück" prägt.
     
  2. macixus

    macixus Hofrat & Traktorist

    >Aber was ist dann, wenn ihn dieses Unglück ereilt hat? Muss er sich vorwerfen, zu wenig Verstandeskräfte besessen zu haben?<

    Das ist
    a. eine Frage der Definition von Unglück und stellt
    b. immer noch den (für mich falschen) Zusammenhang Aufklärung = Glück her.

    Un-glück kann vieles sein: Schicksal, Pech, Shit happens, Erfolglosigkeit, Geldlosigkeit und und und...Dementsprechend vielfältig (möglicherweise sogar uferlos) ist auch die Suche nach den Ursachen dafür.

    >Eine solche Bindung ist die an eine Gesellschaft, die eben ihre ganz speziellen Definitionen von "Glück" prägt.<

    Das kann "die" Gesellschaft (wer ist das?) ja durchaus so halten - aber daran ist doch das Individuum nicht gebunden oder gar gefesselt.
     
  3. benjii

    benjii New Member

    ja, Glücke und Unglücke gibt es wohl so viele, wie es Menschen gibt. Aber wer schon einmal richtig glücklich oder unglücklich war, weiß, wovon wir hier reden, glaube ich...

    Ich denke, den Glücksbegriff um den es hier geht, ist schon einer, der mit der Aufklärung kam: Nämlich der machbare, planbare  sei es durch Verstand (Kant) oder durch Cash (Schäfer).

    Die Bindung an eine Gesellschaft stellt sich für mich übrigens schon weitaus untergründiger und vernetzter dar, als ein bloßes Existieren in ihr - sehr schwierig, da vollkommen autonom zu leben. Ich kenne niemanden, der das geschafft hätte.
     
  4. macixus

    macixus Hofrat & Traktorist

    Kenne auch keinen, der "autonom" von "der" Gesellschaft leben könnte (mit Ausnahme von Harlequin selbstverständlich ;-)

    Verlangt ja auch keiner, dies zu tun. Selbst Einsiedler geben sich den Auftrag dazu selbst.

    Kants "Mündigkeit" ist ja auch eine, die durchaus nichts gegen die Gesellschaft hat. Dagegen ist die "selbstverschuldete Unmündigkeit" eine, die das "Glück" in der Religion, dem Konsum oder dem monetären "Erfolg" sucht und nicht findet.
     
  5. benjii

    benjii New Member

    macixus, ja, aber wenn du nicht völlig autonom von einer Gesellschaft bist, teilst du auch ihren "Glücksbegriff" oder ihren "Zwang zum Glücklichsein"...

    Nochmal zurück zum Ursprung:

    Die Idee kam schon mit der Aufklärung, dass der Mensch nicht mehr nach Gottes Lohn zu streben habe, sondern nach seinem Glück hier auf Erden... Eine Idee, die auch heute noch aktuell ist und die viele allwöchentlich in die Einkaufspassagen treibt - auf der Suche nach einer unmündigen Form von Glück, wirst du wohl sagen ...

    Aber dass der Mensch so angreifbar ist für diese unmündigen Formen der Glückssuche, liegt meiner Meinung nach schon auch darin begründet, dass die Aufklärung den Menschen letztendlich allein mit wichtigen Fragen gelassen hat - im Vertrauen darauf, dass er durch seine Mündigkeit alles bewältigt. Das kann auch in vielen Situationen klappen - so lange es dem Menschen gut geht und er im Vollbesitz seiner (geistigen) Kräfte steht. Aber wenn nicht mehr? Wenn er an einer Unglücksklippe hängt? Und jeder kann in diese Lage kommen... Von daher hat Gorris für mich schon Recht, wenn er über die Glücksbotschaft schreibt "Sie klingt wie ein schrecklicher Befehl: erbarmungslos und ohne Trost."

    Tatsächlich drehen sich unsere Meditationen wohl um die Aussage, die gorris gemacht hat und colonel in seinem Posting so gut erklärt hat: Nämlich dass die Aufklärung Gott durch Glück ersetzt habe... Da ist wirklich was dran, finde ich.

    Spannende Debatte.
     
  6. macixus

    macixus Hofrat & Traktorist

    Jetzt muss adrianlanglauf übernehmen oder Blaubeere oder 2112 ;-)
     
  7. benjii

    benjii New Member

    Schade ;-)
     
  8. macixus

    macixus Hofrat & Traktorist

    Mein smiley ist nur ein halber - du suchst nicht nach "Aufklärung", sondern nach einer (nicht böse gemeint) "Ersatzreligion". Und da steige ich aus und Berufenere mögen einsteigen.
     
  9. benjii

    benjii New Member

    Mein Smiley ist auch nur halb - du scheust vor den wichtigen Fragen, finde ich (auch nicht böse gemeint).

    Hmmm, ich weiß nicht, ob ich nach einer Ersatzreligion suche. Ich versuche mir eben vorzustellen, wie eine Gedankenwelt aussehen könnte, die menschlicher ist als die, die gerade herrscht...
     
  10. colonel panic

    colonel panic New Member

    >>Aussage, die colonel in seinem Posting gemacht hat: Nämlich dass die Aufklärung Gott durch Glück ersetzt habe... <<

    Ich will mich ja nicht mit fremden Federn schmücken: Die Aussage habe ich nicht gemacht, sondern dem Eingangsposting entnommen ;-)

    Die Aufklärung hat der Menscheit viel gebracht. Sie hat aber auch einiges genommen. So ist die Mündigkeit, die macixus durch Kant anmahnt eine Errungenschaft, die die Menschen aus der Knechtschaft der Kirche und des Adels befreit hat. Wie frei wir heute sind, muss allerdings jeder für sich beurteilen.
    Die Aufklärung ist kein erklärtes Postulat, das bis in alle Details Verwirklichung gesucht hat. Vielmehr war sie ein Anstoß, und die Dinge haben sich selbst entwickelt. Aber man redet der Einfachheit halber gerne von "der Aufklärung", wenn man die Entwicklungen der modernen Gesellschaft meint. Daher kann es durchaus passieren, dass ich den Geist der Aufklärung kritisiere, ohne die Ideen der bürgerlichen Protestbewegung schmälern zu wollen.
    Durch die Aufklärung ist die Religion nicht nur aus dem Alltag gewichen. Der Mensch hat sich selbst an oberste Stelle gesetzt. Die Lebenspanne wurde zum Inhalt. Es gibt keine Aussicht auf ein Jenseits. Was bleibt dem Mensch da anderes übrig, als die Suche nach irdischem Glück? Wenn sein Leben nicht mehr ausgerichtet ist, muss er versuchen sein Leben mit möglichst viel Glück zu füllen. Er hat ja nur eines. Und am Ende ist Zappen: Klappe zu, Affe tot. Schluss. Aus. (Nicht-)Amen.
    Was ist das für eine Aussicht, die wir für die Mündigkeit gezahlt haben? Und was haben wir von dem vergänglichen Glück, wenn zum Schluss die Lichter ausgehen? Das ist ein trostloses Dasein, das natürlich mit Ersatzreligionen (macixus) ausgefüllt werden muss. Sei es mit Wissenschaft, mit der Suche nach Glück oder einfach mit völliger Selbstinvestition in Diskussionen wie Mac <-> PC oder OS9 <->OSX.
    Man versucht eben vieles, um die Sinnlosigkeit des Lebens zu kaschieren. Ich im übrigen auch.
     
  11. benjii

    benjii New Member

    colonel, dass das Zitat von Gorris stammt, habe ich dann auch bemerkt - und es etwa zur gleichen Zeit korrigiert, als du darauf Bezug genommen hast :)

    Ja, das hast du wieder gut erklärt, finde ich. Die Aufklärung ist tatsächlich ein (bis heute) andauernder Prozess, der auch einiges Gutes gebracht hat...

    Ich denke aber auch so - es ist die spürbare Sinnlosigkeit von vielem und die verzweifelte Suche nach wirklichem Glück, was die Menschen in die Arme von so Luftnummern-Gurus wie Bodo Schäfer treibt...

    Ich bleibe dabei: Es wird, vor allem bei zunehmender monetärer Verschlechterung der Lage, ein großes Nachdenken über diese Punkte geben müssen (und nicht nur im Macwelt-Forum :))... Denn dieses Feld darf wirklich nicht den Scharlatanen überlassen werden & davon hatten wir schon einen. Und der reicht wohl für alle Zeiten.
     

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